Funktionelle, ganzheitliche oder ursachenzentrierte Medizin?

Eine kleine Suche auf Wikipedia nach verschiedenen Medizinbegriffen ergibt ein trauriges Ergebnis. „Funktionelle Medizin“ gibt es nicht, der Eintrag für „ganzheitliche Medizin“ enthält überwiegend Geschwafel. Auf der englischsprachigen Wikipedia wird funktionale Medizin sogar mit Quacksalberei gleichgesetzt: „Functional medicine is a form of alternative medicine that encompasses a number of unproven and disproven methods and treatments. […] It has been described as pseudoscience, quackery, and at its essence a rebranding of complementary and alternative medicine.

Besonders der englische Eintrag schlägt mir auf den Magen. Zwischen den beiden oben zitierten Sätzen steht etwas, das als nahezu korrekte Definition durchgehen mag: „Its proponents claim that it focuses on the ‚root causes‘ of diseases based on interactions between the environment and the gastrointestinal, endocrine, and immune systems to develop ‚individualized treatment plans‘.“. Auf Deutsch: Es geht darum, die individuellen Ursachen von Krankheiten zu finden und zu beseitigen. Und dies ist der Kern der funktionellen oder ganzheitlichen Medizin. Eine Abgrenzung zur klassischen Medizin ist weder notwendig noch sinnvoll.

Das große Problem an dieser Begrifflichkeit ist, dass die funktionelle Medizin tatsächlich nahezu von Quacksalbern „gekapert“ wurde. Im englischen und deutschen Sprachraum findet man zu „ganzheitlicher Medizin“ jede Menge dubiose bis grob kriminelle Praktiken, die sich nur wenig von mittelalterlichen Warzenbesprechungen und Teufelsaustreibungen unterscheiden. Auf der anderen Seite des Spektrums finden sich hervorragende Mediziner, die klassische Medizin mit ganzheitlicher Medizin verbinden.

Vielleicht benötigen wir einen neuen Begriff, um uns von Quacksalbern abzugrenzen. Mein persönlicher Vorschlag dafür wäre „ursachenzentrierte Medizin“.

Ursachenzentrierte Medizin

Die klassische Medizin hat beeindruckende Erfolge vorzuweisen. Sie funktioniert meist hervorragend bei akuten Erkrankungen, denn dort wird die Ursache behandelt: Ein Knochenbruch oder Bänderriss wird chirurgisch behandelt, eine lebensgefährliche bakterielle Infektion wird mit Antibiotika behandelt. Nicht die Symptome (Schmerzen bzw. Fieber), sondern der Auslöser der Krankheit wird therapiert.

Bei der Behandlung chronischer Krankheiten ändert sich das Bild. Anstelle die Ursache zu beseitigen, behandeln wir Sympome. Betrachten wir z.B. Diabetes: Das Leitsymptom von Typ-1-Diabetes und Typ-2-Diabetes ist gleich (die Glukosespiegel im Blut sind überhöht), und die Behandlung ist (oft) gleich, wir spritzen Insulin. Die Ursachen sind allerdings verschieden, was sich über einen Blick auf den Insulinspiegel leicht unterscheiden lässt:

  • Bei T1D produziert die Bauchspeicheldrüse gar kein Insulin. Ein Typ-1-Diabetiker bekommt Insulin um zu überleben.
  • Bei T2D produziert die Bauchspeicheldrüse noch Insulin , das Insulin reicht aber aufgrund von Insulinresistenz nicht aus. Erst später verliert die Bauchspeicheldrüse die Fähigkeit zur Insulinproduktion graduell. Deshalb ist bei T2D eine Behandlung mit Insulin kontraproduktiv (wenn die Bauchspeicheldrüse noch Insulin produziert) und die Insulinresistenz muss behandelt werden, denn überhöhte Insulinspiegel richten viel Schaden an. (Dieses Thema ist allerdings komplex und umstritten. Schaut in das Diabetes-Kapitel in meinem Buch für eine ausführliche Diskussion.)

Das Problem bei chronischen Krankheiten ist, dass sich die Ursache nicht aus den Symptomen ableiten lässt. Bei einer bakteriellen Infektion sind charakteristische Entzündungsmarker erhöht, die Ursache (Vorhandensein von Bakterien) lässt sich sicher feststellen. Ein gebrochenes Bein lässt sich per Röntgenbild diagnostizieren. Bei Demenz, Gicht oder Diabetes geht das nicht: Wir können die Krankheit diagnostizieren (kognitive Ausfälle, erhöhte Harnsäure und erhöhter Blutzucker), aber nicht die Ursache.

Bildquelle: Pixabay.com

Leider lernen Ärzte in ihrer Ausbildung primär, welche Medikamente bei welchen Symptomen anzuwenden sind. Die Ursachenforschung bleibt auf der Strecke.

Medikamente können bei vielen chronischen Krankheiten die Symptome lindern, aber nicht die Krankheit heilen. Zudem führen sie oft zu Nebenwirkungen, die mit weiteren Medikamenten behandelt werden müssen. Heilen lässt sich eine chronische Krankheit aber nur durch Therapie der Ursache. Ein Vergleich: Wenn ein Auto Öl verliert, ist das Nachfüllen von Öl eine symptomorientierte Behandlung, die das Symptom möglicherweise lange Zeit gut beseitigt. Es gibt aber Nebenwirkungen (Umweltverschmutzung) und ein nicht unwesentliches Risiko, dass der Ölverlust mit der Zeit stärker wird und das Auto ganz kaputt geht. Eine ursachenzentrierte Behandlung wäre es, das Auto in die Werkstatt zu bringen.

Ein Beispiel: Sodbrennen

Nun sind Vergleiche billig und hinken oft, deshalb ein konkretes, medizinisches Beispiel: Sodbrennen entsteht, wenn Magensäure in die Speiseröhre fließt. Bei chronischem Sodbrennen funktioniert der Schließmuskel zwischen Speiseröhre und Magen nicht mehr zuverlässig, die Magensäure fließt häufig in die Speiseröhre und verätzt sie. Die dadurch entstehenden Entzündungen sind sehr schmerzhaft und können zu Vernarbung und Krebs führen, müssen also behandelt werden.

Die Antwort der symptomzentrierten Behandlung ist eine Absenkung der Magensäure durch Protonenpumpeninhibitoren (PPIs: Omeprazol, Pantoprazol u.ä.). Dies ist bei gelegentlichem Sodbrennen eine passable Behandlung, allerdings eine fatale Sackgasse bei chronischem Sodbrennen:

  • Die Magensäure wird zwar stark vermindert, der Verschluss zwischen Magen und Speiseröhre bleibt aber gestört. Selbst eine verminderte Magensäure kann Sodbrennen auslösen.
  • Schlimmer ist die Beeinträchtigung der Verdauung. Wir benötigen einen sehr „sauren“ Magen, um Nahrung korrekt zu verdauen und Vitamine/Spurenelemente aufzunehmen. Zudem ist die Magensäure ein wichtiger Verteidigungsmechanismus gegen Viren, Bakterien und Pilze, die wir zwingend mit der Nahrung konsumieren. Und schlussendlich führt verminderte Magensäure zu einer Fehlbesiedelung der Darmbakterien, des sogenannten Mikrobioms.

Die langfristigen Folgen der PPI-Behandlung sind leider noch nicht gut erforscht, da PPIs erst seit Ende der 80er Jahre bekannt sind. Inzwischen gehören sie zu den umsatzstärksten Medikamenten und werden nahezu wie Bonbons verschrieben, in Deutschland derzeit fast 4 Milliarden Tagesdosen pro Jahr. Mehr als 10% der Deutschen nehmen täglich PPIs.

Langfristige Folgen

Und tatsächlich funktionieren PPIs erst einmal sehr gut, und sind praktisch nebenwirkungsfrei. Dank guter kurzfristiger Verträglichkeit verzichtete man auf langfristige Studien. Die langfristige Bilanz ist dagegen katastrophal, und nach meiner persönlichen Ansicht könnten sich PPIs als der zweitschlimmste Fehlschlag in der Behandlung chronischer Krankheiten herausstellen (nach Statinen):

  • PPIs führen mindestens zu Defiziten an Vitamin B12, Calcium und Eisen. Weitere Defizite werden vermutet.
  • Dies kann zu einer ganzen Reihe von Krankheiten führen. Die Apotheker-Zeitung verweist auf Demenz, Atherosklerose, häufige Knochenbrüche und viele weitere Krankheiten (vgl. die dort verlinken Studien). Einiges davon ist umstritten, da die Studienlage widersprüchlich ist. Aber selbst wenn sich nur wenige dieser Vermutungen bestätigen, dürfte sich eine Dauerbehandlung mit PPIs als stark gesundheitsschädlich herausstellen.
  • PPIs lassen sich nach langer Einnahme kaum wieder absetzen, da es zu einem „Rebound“ mit stark erhöhter Magensäureproduktion kommt.
    Die Geister, die ich rief…

Die Alternative

Die PPI-Behandlung geht vollständig an der Ursache vorbei. Der Verschluss zwischen Magen und Speiseröhre wird nicht repariert, eine Absenkung der Magensäure ändert das nicht. Die Mechanismen für Sodbrennen sind zwar nicht vollständig erforscht, es gibt aber zahlreiche Hinweise dass Sodbrennen eine Folge von überhöhtem Kohlenhydratkonsum und dem metabolische Syndrom ist. Ein direkter Zusammenhang zwischen Kohlenhydratkonsum und Stärke des Sodbrennens ist bekannt. Der vermutete Mechanismus: Entzündungen, erhöhte Harnsäurespiegel und mangelndes Adiponectin (klassische Folgen des MetS) schädigen das Bindegewebe. Dazu kommt die erhöhte Säureproduktion als Reaktion auf Konsum von Zucker und kurzkettigen Kohlenhydraten.

Die Therapie ist offensichtlich: Eine Umstellung auf kohlenhydratarme Kost beseitigt Sodbrennen nachhaltig und dauerhaft. In einer Studie wurden 144 fettleibige Frauen (BMI zwischen 30 und 40) auf eine ketogene Ernährung umgestellt. Nach 10 Wochen waren alle 144 Frauen frei von Sodbrennen und hatten alle Medikamente abgesetzt. Das ist bemerkenswert: Ein Verschwinden der Krankheit bei 100% der Patienten dürfte bisher keine einzige Studie mit medikamentösen Therapien erreicht haben. Die Funktion des Schließmuskels wurde wohlgemerkt wiederhergestellt, denn eine ketogene Ernährung führt eher zu verstärktem Magensäureausstoß. Der erhöhte Fettkonsum ist völlig unproblematisch, da es keinen Zusammenhang zwischen Fett und Sodbrennen gibt. Ein Musterbeispiel für ursachenzentrierte Medizin, der Krankheitsauslöser wird beseitigt.

Diabetes

Bildquelle: Pixabay.com

Es ist leicht messbar, dass die ursachenzentrierte Medizin bei vielen Krankheiten dramatisch besser ist als die symptomzentrierte Behandlung. Zurück zur Diabetes: Eine leitliniengerechte, symptomorientierte, medikamentöse Behandlung von Typ-2-Diabetes führt innerhalb von 7 Jahren nur bei 1,47% zu einer teilweisen Remission (HbA1C ohne medikamentöse Therapie unter 6,4). Die ursachenzentrierte Behandlung mittels Kohlenhydratrestriktion (Diabetes ist eine Fehlregulation des Glukosehaushalts, und wir können ohne gesundheitliche Probleme den Glukosekonsum um 90% reduzieren) erreicht dagegen eine Quote von rund 60%.

Die letzte Waffe der symptomzentrierten Medizin ist bariatrische Chirurgie, die eine ähnliche „Erfolgsrate“ bei Diabetes hat. Die Risiken sind allerdings erheblich: Einer von 300 Patienten stirbt an den Folgen der Operation, bei bis zu 17% kommt es zu Komplikationen. Nach wenigen Jahren kommt es zu erheblichen Nährstoffdefiziten, die Patienten müssen für den Rest ihres Lebens Nahrungsergänzungsmittel nehmen. Die Folgen sind Depressionen und eine vierfach erhöhte Selbstmordrate, andere Folgekrankheiten werden derzeit noch erforscht. Dabei nehmen viele Patienten nach einigen Jahren wieder zu.

Die Effektivität einer Low-Carb-Behandlung bei Diabetes ist seit mehr als 20 Jahren aus wissenschaftlichen Studien bekannt. Dennoch bekämpfen medizinische Organisationen Ärzte, die eine Kohlenhydratreduktion bei Diabetes empfehlen, hart – bis hin zu Berufsverboten. Die Verachtung, die klassische Mediziner gegenüber nicht-medikamentösen Behandlungen zeigen, trägt eine Mitschuld an der derzeitigen Diabetes-Epidemie.

Die in den Beispielen genannten Behandlungsmethoden sind keinesfalls Wundermittel. Es gibt einige Patienten, bei denen Kohlenhydratrestriktion weder Diabetes noch Sodbrennen beseitigt. Hier müssen andere, oft medikamentöse Behandlungsmethoden angewendet werden. Aber ein Arzt wird immer zuerst die Therapie verwenden, die am erfolgversprechendsten bei geringsten Nebenwirkungen ist. Hier ist das die Ernährungsumstellung, alternative Therapien und Medikamente sind zweite Wahl.

Ebenso gibt es viele Krankheiten, die sich nur medikamentös behandeln lassen – teils weil wir die Ursache (noch) nicht kennen, teils weil wir sie nicht korrigieren können. Bei vielen Krankheiten müssen wir mehr Ursachenforschung betreiben, um hoffentlich schonendere Behandlungsmethoden zu finden.

Nun sag, wie hast du’s mit der Wissenschaft?

Aus obigen Beispielen (von denen es noch viel mehr gibt) dürfte klarwerden, dass die ursachenzentrierte Medizin keinesfalls unwissenschaftlich ist und nicht im Widerspruch zur klassischen Medizin steht. Ganz im Gegenteil: Die Diagnose der Ursache ist harte Wissenschaft und benötigt den Einsatz aller bekannter diagnostischer Mittel. Ebenso muss ein plausibler biologischer bzw. chemischer Mechanismus bekannt sein, der den Zusammenhang zwischen Ursache und Symptom herstellt. Eine effektive und nebenwirkungsfreie Behandlung kann nur erfolgen, wenn die Effektivität und Verträglichkeit mittels Studien nachgewiesen wurde. Die Wirkung ist zu 100% messbar und nicht subjektiv.

An der Messbarkeit scheitern natürlich alle Wunderheiler. Wer etwa mit Magnetfeldtherapien oder Energieströmen „behandelt“, kann nichts messen oder erklären (auch wenn es eine gängige Praxis ist, möglichst komplizierte wissenschaftliche Begriffe zur Verwirrung der Patienten zu verwenden). Das hat nichts mit funktionaler Medizin zu tun. Dennoch sind es gerade diese „Heiler“, die am häufigsten die ganzheitliche Medizin im Munde führen – und von der klassischen Medizin kommt kein Gegenwind.

Und natürlich wird ein ursachenzentriert arbeitender Arzt oft die klassische Medizin anwenden. Sodbrennen wird (zuerst) mit Ernährungsumstellung behandelt, eine gefährliche bakterielle Infektion (zuerst) mit Antibiotika.

Ursachenzentrierte Medizin ist die Zukunft, und nicht eine Erfindung von Spinnern, Impfgegnern und Verschwörungstheoretikern.

Mikronährstoffe, Diäten und Übergewicht

Ein Abstecher in die Corona-Welt

Vorgestern erreichte mich tatsächlich per WhatsApp die erste vollständig ernst gemeinte Verschwörungstheorie: Bill Gates ist es, der uns allen mittels Zwangsimpfungen einen Chip einpflanzen will. COVID-19 wurde nur aus diesem Grund synthetisch entwickelt und schon vor Jahren patentiert. Aha. Was denn dieser Chip anstellen solle war mir dann nicht klar — werden wir alle zu Borg? Eingebettet in die Theorie war übrigens auch der Hinweis, dass ich ganz alleine an meiner Krankheit ME/CFS schuld wäre. Immerhin habe die Autorin mir schon vor langer Zeit die „chinesische Quantum-Methode“ (CQM) empfohlen, die alle meine Beschwerden geheilt hätte. (Die Methode schien mir übrigens nicht chinesisch zu sein, und ich konnte keinen Zusammenhang mit Quanten oder Quantenphysik erkennen. Stattdessen sah ich nur eine wenig überzeugende 08/15-Wunderheilung. Vielleicht haben mich ein paar Semester Physikstudium verblendet.)

Nun kann und will ich alle diese Theorien nicht widerlegen. (Welche Beweise kann ich erbringen, dass kein fliegendes Spaghettimonster existiert? Das ist nicht möglich, egal wie schlau ich es anstellen will.) Fehlende Falsifizierbarkeit ist die Grundlage vieler esoterischer Behandlungsansätze. Ich bin Naturwissenschaftler und halte mich lieber an Methoden, die ein objektives Maß für den Erfolg haben. Der Erfolg einer Behandlung muss messbar sein, und dann können wir sie mit Studien bewerten und mit anderen Behandlungsmethoden vergleichen. Ein HbA1c ist 5,6 oder 6,5 oder was auch immer, aber wenn er durch eine Intervention gesenkt wird dann ist das gut.

Schwierig wird die Sache, wenn Parameter schwer zu messen sind. Der Eisengehalt im Gehirn lässt sich nur per Autopsie bestimmen, zum Leidwesen aller Restless-Legs-Patienten. Ebenso mag es messbare Größen geben, die wir heutzutage noch nicht messen können. Vor 200 Jahren hätten wir den HbA1c noch nicht bestimmen können. Dennoch: Liebe Leute, lasst euch nicht ins Bockshorn jagen. Wunderheilungen existieren nicht.

Zudem ist es schon sehr komisch, dass fast immer jemand gut an diesen kruden Theorien verdient. Für die CQM finden mehrmals im Monat Seminare statt, mit schlappen 1190,-€ pro Teilnehmer — und Absolventen verdienen eine Provision wenn sie neue Teilnehmer anschleppen. Die aggressive Vermarktung des Coachings erinnert mich an das inzwischen fast ausgestorbene Vertretertum für nutzlose Haushaltsgeräte und Lexika, offensichtlich auch heutzutage noch eine gute Einnahmequelle für die Hersteller. Natürlich kommen esoterische Therapien nicht mit 14-Tage-Geld-zurück-Garantien. Wenn die Therapie nicht anschlägt, dann ist im Zweifelsfall der Patient schuld. Deshalb eignen sich krude Theorien heutzutage besser für den aggressiven Direktvertrieb als Küchenmaschinen.

Low Carb vs. Low Fat, eine neue Studie

Aber zurück zur Ernährung. Dieser Tage stolperte ich über ein Preprint einer neuen Studie, in der fettarme und kohlenhydratarme Ernährung verglichen wird. Bevor ich die Studie verreiße, möchte ich eins klarstellen: Wenn jede Ernährungs-Studie so akribisch dokumentiert wäre, dann wären wir nicht in der heutigen Ernährungs-Misere. Ich erkenne ganz genau was mit den Teilnehmern gemacht wurde, und welche Ergebnisse dies hatte.

Der Titel der Studie lautet „A plant-based, low-fat diet decreases ad libitum energy intake compared to an animal-based, ketogenic diet“ (eine pflanzenbasierte, fettarme Ernährung senkt die Energieaufnahme gegenüber einer tierbasierten ketogenen Ernährung) und schlussfolgert „ad libitum energy intake was 689±73 kcal/d lower during the PBLF diet as compared to the ABLC diet […]. These data challenge the veracity of the carbohydrate-insulin model of obesity and suggest that the PBLF diet had benefits for appetite control whereas the ABLC diet had benefits for lowering blood glucose and insulin.“ (Die Richtigkeit des Kohlenhydrat-Insulin-Modells wird angezweifelt, der Appetit sank nicht unter ketogener Ernährung.) Die Teilnehmer waren nicht kalorienbeschränkt, und die fettarme Ernährung (PBLF) führte zu geringerer Energieaufnahme als die ketogene Ernährung (ABLC).

Der erste offensichtliche Fehltritt ist, dass überhaupt auf die Energieaufnahme geschaut wird. Das Dogma, dass die Kalorienaufnahme wichtig ist und jede Kalorie zu viel als Fett angelegt wird, ist längst widerlegt. Wen interessiert es, ob ich 2.000 oder 5.000 Kalorien am Tag esse, solange das gewünschte Ergebnis (Gewicht, Fettanteil, metabolische Gesundheit) erzielt wird? Klar ersichtlich war übrigens, dass die Probanden unter einer Low-Carb-Ernährung mehr Energie verbrauchten. Sie aßen 689 Kalorien am Tag mehr, aber sie verloren Gewicht. Darin einen Vorteil der fettarmen Ernährung zu sehen ist schon gewagt.

Der zweite Fehltritt ist der sehr hohe Anteil an Omega-6-Fetten in der ketogenen Ernährung. Gesunde Ernährung wird nicht durch das Verhältnis von Fett und Kohlenhydraten definiert, sondern die Frage „welches Fett“ (billiges Pflanzenöl oder tierische Fette) ist genauso wichtig wie die Frage „welche Kohlenhydrate“ (ganz offensichtlich macht es einen Unterschied, ob man 200g Zucker oder 200g Vollkornbrot isst). Auch auf Antinährstoffe wurde nicht geachtet, die verwendeten Mahlzeiten waren reich an Lektinen.

Low-Fat verliert gegen Low-Carb?

Warum rede ich noch weiter über diese Studie? Beim näheren Hinsehen finde ich ein sehr viel interessanteres Ergebnis: Die Gewichtsabnahme in der Low-Fat-Gruppe war zwar etwas geringer als in der Low-Carb-Gruppe, aber unter ketogener Ernährung verloren die Probanden vor allem Wasser und nur minimal Fett, während in der Low-Fat-Gruppe etwas Fett (ca. 600-700g) abgebaut wurde. Wie kann das sein? Dafür müssen wir uns das Experiment im Detail anschauen: Jeder Teilnehmer aß 2 Wochen ketogen und 2 Wochen fettarm, die Reihenfolge (erst ketogen oder erst fettarm) wurde zufällig bestimmt. Zudem wurden jedem Teilnehmer 5 Mahlzeiten am Tag serviert, 3 Hauptmahlzeiten und 2 Snacks.

Nun sind 2 Wochen ein viel zu kurzer Zeitraum, um die Auswirkungen einer Ernährungsumstellung zu bewerten. Der Körper benötigt bis zu 3 Wochen, um sich auf ketogene Ernährung umzustellen. (Je schwerer die metabolischen Schäden, desto länger dauert die Umgewöhnung. Kinder schaffen das in einer einzigen Nacht.) Ein Gewichtsverlust in den ersten Wochen ist primär ein Wasserverlust, der leicht etliche Kilo ausmachen kann. Ein anderer Grund für einen mangelnden Fettverlust ist aber auch die Häufigkeit der Mahlzeiten: Unter ketogener Ernährung stellen sich fast alle Menschen schnell auf 3 oder weniger Mahlzeiten pro Tag um. Zwischenmahlzeiten lassen wir weg. Der Fettabbau erfolgt durch die längeren Fastenzeiten, in denen körpereigenes Fett abgebaut wird.

Insofern können wir ein interessantes Zwischenergebnis festhalten: Wenn wir häufig genug essen, dann führt ketogene Ernährung führt nicht zwingend zum Abnehmen, zumindest in den ersten 2 Wochen. Ebenso können wir in den ersten zwei Wochen mit fettarmer Ernährung gut abnehmen (sofern wir insulinsensitiv sind, was man bei den jungen und nur moderat übergewichtigen Teilnehmern dieser Studie annehmen kann).

Mikronährstoffe

Des Pudels Kern ist womöglich ein anderer Effekt. Ich selber habe früher unzählige Abnehmversuche mit einer fettarmen Ernährung gemacht. Die ersten Wochen gingen immer prima, aber nach 3-4 Wochen wuchs mein Appetit ins Unermessliche. Irgendwann kam entweder ein regelrechter Heißhunger, oder ich beendete die Diät. Wie kam es dazu? Die Ursache ist möglicherweise ein Defizit an Mikronährstoffen (Vitamine, Mineralstoffe und essentielle Aminosäuren) in der Diät.

Bekannt ist, dass übergewichtige Menschen oft Defizite an Mikronährstoffen haben. Früher beobachtete man dies vor allem nach Adipositaschirurgie. Inzwischen weiß man aber, dass schwer übergewichtige Menschen schon vor dem Eingriff Defizite haben. Ich kenne auch Spekulationen, wie Defizite zu Übergewicht führen könnten. Sie beeinflussen z.B. die Empfindlichkeit für Leptin (ein Sättigungshormon).

Allerdings hat meines Wissens niemand die naheliegende Frage untersucht, welche Folge Mikronährstoffmangel auf den Appetit hat. Dabei werden wir maßgeblich durch solche Mängel gesteuert: Wer Salzverlust hat (z.B. nach einer durchzechten Nacht), benötigt salzhaltiges Essen. Unser Appetit auf bestimmte Lebensmittel (wie einige Gemüse oder Nüsse) schwankt stark von Tag zu Tag. Weshalb?

Mir scheint es naheliegend, dass unser Hunger/Appetit (bis zu einem gewissen Grad) durch die Balance der Mikronährstoffe gesteuert wird. Die Urmenschen hatten keine Tabellen für empfohlene Mindestmengen, aber sie waren trotzdem nicht defizität an Mikronährstoffen: Wenn Magnesium fehlte, bekamen sie Appetit auf magnesiumhaltige Nahrungsmittel. Wenn zu viel Salz oder Kalium im Körper war, bekamen sie Durst und die Nieren schieden die überschüssigen Mengen aus. Appetit/Hunger gleicht Mängel aus, Überschüsse werden ausgeschieden. Das funktioniert nicht immer: Bei Zucker ist ein „je mehr, desto besser“ evolutionär fest verdrahtet. Die Menschen mit den dicksten Fettpolstern verhungern zuletzt im Winter. Aber bei den vielen Nährstoffen, die eine U-förmige Optimalverteilung haben (zuviel und zuwenig ist beides schlecht) dürfte die Regulierung so funktionieren.

Dies würde einiges erklären: Menschen mit Mikronähstoffmangel sind (auch) deshalb dick, weil sie viel mehr essen als sie von der Energiebilanz brauchen. Der Körper will nicht nur den Bedarf an Zucker oder Fett, sondern auch an Vitaminen decken. Anders herum scheitern deshalb Diäten: Viele populäre Diäten zur Gewichtsabnahme sind defizitär in vielen Mikronährstoffen. In den ersten Wochen fällt dies nicht weiter auf. Aber je länger wir die Diät einhalten, desto stärker signalisiert unser Gehirn: Wir brauchen mehr! Wir bekommen Heißhunger und essen mehr, als wir zur Deckung unseres Energiebedarfes benötigen — wir bauen Fettpolster auf. Dies mag bei einer zeitlich begrenzten Diät, die man nur für 2 Wochen einhalten muss, nicht weiter stören. Aber es ist ein fatales Problem in Ernährungen, die man langfristig einhalten will.

Kurze Studien: Ab in die Tonne!

Die Konsequenz aus dieser Erkenntnis: Studien zur Ernährung sollten die ersten 1-2 Monate ignorieren. Saubere Ergebnisse erhält man, wenn man die Teilnehmer über 2 Monate auf die neue Ernährung einstellt, und die Veränderungen danach betrachtet. Die Ergebnisse kürzerer Studien können bestenfalls Prozesse im Umstellungsprozess auf eine anderen Zusammensetzung der Nahrung untersuchen.

Die andere Lektion, die in dieser Geschichte versteckt ist: Wenn wir die erwarteten Ergebnisse bekommen, dann bestätigt das unser Weltbild. Aber wenn ein Ergebnis nicht so ist wie wir es erwartet haben (die Low-Carb-Fraktion verlor weniger Fett), dann gewinnen wir neue Erkenntnisse: Ein genaueres Hinsehen lohnt sich. (Hätten sich die Autoren doch diese Mühe gemacht!)

Das Kohlenhydrat-Insulin-Modell wird durch diese Studie keinesfalls widerlegt. Und ich habe wieder etwas verstanden, was mir vor dem Lesen der Studie nicht klar war. Meine Welt ist gerade heil 🙂

Bleibt gesund, haltet die Abstandsregeln ein, und vermeidet unnötige Kontakte.